Ein Besuch beim Seelsorger der Schüchtermann-Klinik in Bad Rothenfelde

„Dabei geht es einfach um die Seele“

Pastor Martin Steinke arbeitet seit September 2016 als Seelsorger in der Schüchtermann Klinik in Bad Rothenfelde. Das Krankenhaus ist eine Spezialklinik für die Versorgung von Herz- und Gefäßpatienten. Landessuperintendentin Dr. Birgit Klostermeier hat Martin Steinke im Rahmen ihres Projektes „Sprengelfrüchte“ besucht und mit ihm über das Thema der aktuellen Jahreslosung gesprochen: „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ (Ez 36,26)

Vom Eingang der Schüchtermann-Klinik sind es nur wenige Meter bis zur Kapelle des Krankenhauses. Sie grenzt direkt an die Cafeteria. Die Tür steht offen – schließlich soll der Raum zu einem kurzen Besuch einladen. Martin Steinke ist einer von drei Seelsorgern in der Schüchtermann-Klinik. Neben ihm gibt es eine weitere evangelische Kraft sowie eine katholische Kollegin. Sie besuchen die Patienten, die es wünschen – egal, ob sie evangelisch, katholisch oder muslimisch sind. Schließlich belastet alle die ungewohnte Situation gleichermaßen. Der 53-jährige Steinke ist noch recht neu auf diesem Posten, als die Regionalbischöfin Birgit Klostermeier ihn in Bad Rothenfelde besucht.

Klostermeier: Herr Steinke, Sie sind nun seit einem Dreivierteljahr Klinikseelsorger hier in Bad Rothenfelde. Was muss ein Klinikseelsorger in einer Herzklinik wissen, was er in anderen Kliniken nicht wissen muss?

Steinke: Wenn ich das mal wüsste (lacht). Ich bin hier hereinkommen, ohne ein klares Konzept zu haben. Es war klar: an einem starken Ort braucht es auch eine starke Seelsorge. Es ist wichtig, dass Menschen verlässlich da sind. Hier ist mir bewusst geworden, wie existenziell das Herz ist. Für fast alle Patienten geht es um das ganze Leben. Bei allen geht unheimlich viel durch den Kopf. Das Herz ist ein anderes Organ als alle anderen. Deshalb ist der Aufenthalt hier für fast alle ein Anlass, ihr Leben neu zu überdenken. Und das spüre ich, wenn ich auf ihr Zimmer komme. Dass Menschen auch weinen. Sie lachen auch, aber es ist eben sehr existenziell.

Klostermeier: „Um das ganze Leben“ – das klingt sehr grundsätzlich, sehr umfassend.

Steinke: Aus der Theologie kennen wir das ja: Denken, fühlen, handeln – alles hat seinen Ort im Herzen. Und ich glaube: Ja, das passt. „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ Was bedeutet es, mit dem Herzen zu sehen? Das braucht man in der Seelsorge, mit dem Herzen zu sehen. Das Interessante dabei: Gott spielt immer eine Rolle, ohne explizit da zu sein. Es passiert einfach.

Klostermeier: Haben Sie eine konkrete Situation vor Augen?

Steinke: Manchmal werde ich sehr direkt auf Gott angesprochen. Als ich noch ganz neu war, besuchte ich einen jungen Mann, der mich direkt fragte: „Was meinen Sie, sind die Ärzte, die mich operieren, Gottes Diener?“ Es entspann sich dann eine längere theologische Diskussion, und am Ende habe ich ihm erzählt, was Martin Luther mal gesagt hat: „Alles, was nach dem Wort Gottes geschieht, ist wahrer Gottesdienst.“ Insofern ist auch die OP Gottesdienst, weil damit einem Menschen geholfen wird, und das ist ganz im Sinne Gottes. Aber der Dienst der Krankenschwester oder der Reinigungskraft ist genauso Gottesdienst, ist genauso wichtig wie die Arbeit des Chefarztes. Ohne sie geht es nicht. Und beide machen ihre Arbeit genauso gerne. 

Manchmal spielt Gott auch viel unterschwelliger eine Rolle: Ein zunächst recht verschlossener Mann sagte später, nach seiner Operation, zu mir: „Ich habe gemerkt, da hat noch jemand anderes seine Hand im Spiel gehabt.“ Ich glaube, es geht häufig um den Glauben, ohne es darauf angelegt zu haben.

Klostermeier: Herz und Kopf scheinen in einer Herzklinik besonders zusammen zu gehören. Herz und Geist. Es wird viel über das eigene Leben nachgedacht. Die Patienten spüren hier intensiv, dass sie ihr Leben in die Hände von anderen legen. Ärzte tragen sehr viel Verantwortung. Gelten sie hier vielen als „Götter in weiß“?

Steinke: Die Patienten kommen im Vertrauen hierher: „Egal, was sein muss, ich lasse es machen.“ Nur mit diesem Vertrauen, dass die Menschen hier ihre Arbeit gut machen, klappt es. Das ist total schön, in einem Haus zu arbeiten, in dem die Patienten sagen: „Ich fühle mich richtig wohl.“ Und in dem die Menschen, die hier arbeiten, gerne arbeiten.

Klostermeier: Haben Patienten, die in diese Klinik kommen, sich vorher bewusst zur Herzoperation entschlossen?

Steinke: In vielen Fällen ist das nicht möglich. Der Hubschrauber landet hier oft. Menschen aus einem weiten Umkreis werden hierher gebracht, oft auch spontan, wenn ihre Ärzte, ihre Kardiologen nicht mehr weiterhelfen können.

Klostermeier: In dieser Klinik werden auch Kunstherzen eingesetzt. Was bedeutet es für Patienten, nun von einer Maschine abhängig zu sein? Ist das ein „neues Herz“?

Steinke: Das alte Herz ist ja nicht raus aus dem Körper, es kann nur nicht mehr pumpen. Es gibt viele Menschen, wo es gut klappt. Die sagen: „Wenn ich nur die beiden Alternativen hab´, entweder damit zu leben oder gar nicht – dann lieber damit.“ Auf der anderen Seite ist es ein Eingriff, der natürlich schwerwiegender ist als eine „Reparatur“, ein Bypass oder eine neue Herzklappe. Das Kunstherz ist eine Alternative zum Spenderherzen. Davon gibt es nämlich viel zu wenige. Jeder muss deshalb für sich selbst entscheiden, ob ein Kunstherz, eine Maschine also, für ihn, für seinen Körper in Frage kommt. Die Frage lautet dann: „Ist alles, was man tun kann, auch gut für mich?“

Klostermeier: Ich stelle es mir nicht einfach vor, dann als Seelsorger seine Rolle zu finden. Haben Sie in den vergangenen Monaten einen Weg entdeckt, wie sie bei so tief greifenden Entscheidungsprozessen hilfreich sein können?

Steinke: Das Thema, die Frage nach Tod und Sterben, ist natürlich sehr stark. Wir leben in einer Zeit, in der wir den Tod weit wegschieben, weil vieles medizinisch machbar ist. Ich habe aber auch Menschen getroffen, die entschieden haben: „Das möchte ich nicht mehr; ich hatte ein schönes Leben. Wenn Gott mich holen will, soll er mich holen.“ Dann geht es darum, die Begrenztheit, die Endlichkeit auszuhalten. Dafür stehe ich für viele. Einfach zu akzeptieren. Wir Seelsorger sind frei. Bei aller Loyalität dem Haus gegenüber sind uns keine Grenzen gesetzt. Mir geht es darum, die Menschen zu unterstützen. Ich denke an eine schon ältere Herzpatientin, die zuhause über Jahre hin ihre kranke Mutter pflegte, aber selbst eigentlich keine Kraft mehr dafür hatte. Sie verurteilte sich selbst für ihren Gedanken: „Hoffentlich stirbt die Mutter bald.“ Diese Schuldgefühle sind ihr dann offensichtlich auf´s Herz geschlagen. Ich habe sie gefragt: „Was würde Ihre Mutter Ihnen sagen?“

Klostermeier: Damit haben sie ihr ermöglicht, anders zu denken?

Steinke: Beim nächsten Treffen sagte die Frau: „Danke, Sie haben mir so geholfen, durch ihren Tipp.“ Dabei habe ich ihr gar keinen Tipp gegeben – sie hat letztendlich selbst entschieden. Mein Handwerkszeug ist sicher meine systemische Ausbildung. Nicht umsonst kommen bei Besuchen ganz schnell ganz handfeste Themen auf den Tisch. Ich stelle Fragen: „Was sagt Ihre Frau?“ „Was sagen Ihre Kinder?“ Man bestärkt die Menschen darin, was sie im Grunde genommen selber schon wissen. Dass sie vieles machen, weil ihre Familien es von ihnen erwarten. Wenn die Leute die Zeit haben zu überlegen, dann rate ich ihnen, aus sich herauszutreten und sich zu fragen: „Was möchte ich noch? Und was kann ich getrost sein lassen?“

Klostermeier: Ich frage mich, wie die Jahreslosung in einer Herzklinik verstanden wird. „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Wie hört man das in einer Situation, in der es um die Entscheidung geht: Will oder kann ich weiterleben? Oder stimme ich ein - ja, biblisch würden wir vielleicht sagen: in das „Lob der Endlichkeit“? Das Herz ist alt, aber der Geist entdeckt Neues? Was sagt ein Seelsorger?

Steinke: Es gibt hier ja Unterschiede. Es gibt quasi „reparierte“ Herzen, es gibt Kunstherzen und – tatsächlich – Patienten mit neuen Herzen, die zur Reha kommen. Das Thema Herz ist schwierig. Seitdem ich hier bin, predige ich im Gottesdienst nicht mehr explizit über das Herz – es spielt hier ja implizit immer, wirklich immer eine Rolle. Für mich bedeutet die Jahreslosung auch, den Nächsten mit anderen Augen zu sehen. Durch die Liebe und das Auge Gottes kann ich den Menschen so sehen, wie er ist. Außerdem kann ich ihn in Gottes Hand abgeben, ohne zu klammern. Ich kann ihn loslassen.

Klostermeier: Technik spielt eine immer größere Rolle in unserem Leben und in der Medizin. Das passt nicht immer mit unserem christlichen Menschenbild überein. Irgendwann muss auch die letzte Maschine abgestellt werden.

Steinke: Das wird sicherlich immer schwieriger. Und da spielt auch die Familie eine große Rolle, und das Loslassen. „Papa, denk´ doch an Deine Enkel“ heißt es dann manchmal, obwohl derjenige schon weiß, dass er eigentlich gar nicht mehr will. Das macht die Entscheidung schwer, man könnte ja schließlich noch dies oder das ausprobieren – durch eine weitere OP und vielleicht noch eine.

Klostermeier: Wie sehr belastet die Menschen in so einem Zusammenhang die Frage nach der Schuld?

Steinke: Ich begleite sterbende Menschen auf der Intensivstation, und empfinde es als  Segen wenn sie wissen: „Ich darf gehen“. Wenn die Angehörigen keine Vorwürfe machen und sagen: „Du bist egoistisch. Du denkst nicht an uns.“ Dabei wäre es dann vielleicht nur Quälerei, den Angehörigen zuliebe. Das ist für mich schön: ich habe eine Funktion, in der ich kein „richtig“ oder „falsch“ mitgebe. Für viele bin ich hier einfach ein „treuer Begleiter“. So hat mich eine Patientin genannt, die ich über mehrere Wochen begleitet habe und die mir ihr ganzes Leben erzählen konnte. Diese 1:1-Situation hier, das ist schon toll. Die Patienten wundern sich manchmal, dass ich soviel Zeit für sie habe – das wäre in einer Gemeinde undenkbar. Dass es das der Kirche wert ist, uns hier einzusetzen, das ist schon stark.     

Klostermeier: Beten Sie mit den Patienten?

Steinke: Ja, in zehn oder zwanzig Prozent der Fälle – ja. Mit einem Mann habe ich gebetet, bevor er sein Kunstherz eingesetzt bekam. Nach der OP besuchte ich ihn wieder und er bat mich, die Tür zu schließen. Dann kam die Frage: „Es hat alles so gut geklappt - können Sie noch mal für mich beten?“ Eine Frau habe ich gefragt: „Soll ich ein Gebet sprechen?“ Und sie fragte ganz entgeistert: „Geht das denn?“ Und natürlich ging das. Sie bedankte sich. Und ich versuche immer, den Menschen zu sagen: „Trau Dich ruhig.“ Das ist natürlich toll als Pastor. Dabei geht es einfach um die Seele. Es muss nicht Kirche sein – schließlich besuche ich ja nicht nur evangelische Christen auf ihren Zimmern.

Klostermeier: Gibt es Tage, die Ihnen selbst schwerer fallen als andere?

Steinke: Was gut ist, und das kenne ich schon aus den Tagen meines Zivildienstes: Wenn ich da bin, bin ich ganz da. Und wenn ich zu Hause bin, dann bin ich zu Hause. Dann habe ich die nötige Distanz, um nicht betroffen zu sein, um abschalten zu können.

Ich freue mich, hier arbeiten zu dürfen, und es ist schön zu sehen, wie vielen Menschen hier geholfen wird, wie sie fröhlich nach einigen Tagen nach Hause gehen. Auch zu sehen, was die Ärzte, die Schwestern und das gesamte Personal hier für einen tollen Job machen. Es ist schließlich auch ein Segen, dass Gott uns den Verstand gegeben hat, zu heilen und zu helfen.

Klostermeier: Ich danke Ihnen sehr, für Ihre Arbeit und für das Gespräch! Und ich wünsche Ihnen für diese Aufgabe weiterhin „ein großes Herz“ und Gottes Segen.