Diakonissen in Rehrßen bieten Ort der Ruhe und der inneren Einkehr

„Hier kann jeder so sein, wie er ist“

Vom Alltagsstress bis hin zum Burnout – die Gründe, warum Menschen die Klus in Rehrßen rund 20 Kilometer südlich von Bremen besuchen, sind verschieden. Auch die Dauer des Aufenthalts ist ganz unterschiedlich: Manche Besucher bleiben einen Nachmittag, manche ein Wochenende oder gleich einen ganzen Monat. Zu den Gästen zählen Pastoren genauso wie Musikgruppen – und für alle gilt: „Hier kann jeder so sein, wie er ist“, erzählen Schwester Anka und Schwester Luise Landessuperintendentin Dr. Birgit Klostermeier bei ihrem Besuch in Rehrßen.

Ein kleiner Weg führt vom Parkplatz an einem Glockenturm vorbei durch einen parkähnlichen Garten bis hin zum Wohnhaus der beiden Schwestern. Am Rande des Geländes gibt es einen kleinen See sowie eine Kapelle und andere Nebengebäude. Die Gäste wohnen in einem zweiten Haus.

Allein in den vergangenen beiden Wochen haben zehn Männer und Frauen in der Klus Rat und Ruhe gesucht. Dieter ist einer von ihnen. Er war vor fünfeinhalb Jahren das erste Mal in Rehrßen, nach der Diagnose „Burnout“. Nun kommt er regelmäßig, drei bis vier Mal pro Jahr, für ein Wochenende. „Ich finde hier Erholung und Abstand von meinem Alltag“, sagt er, „beim Lesen oder Musikhören oder einfach beim Blick auf den kleinen See.“ Wenn der 60-Jährige ankommt, stellt Schwester Anka ihm einen Korb mit Lebensmitteln zusammen – mit Milch, Joghurt, einem Mittagessen und einer Kanne Kaffee. „Die Männer mit Korb sind mir am liebsten“, sagt die 55-Jährige und lacht. Doch auch Tagesgruppen mit bis zu 50 Personen versorgt die gelernte Diät-Assistentin mit links.

„Hier kann jeder so sein, wie er ist“, sagt Schwester Anka. Und das nimmt vielen Besuchern den Druck des Alltags von den Schultern. Manche kommen deshalb immer wieder, manche nicht. Die beiden Schwestern nehmen das gelassen. Als sie einmal gleichzeitig unter einem schweren Infekt leiden, sagen sie keinem Gast ab. „Vater, wenn Du sie willst, dann lass´ sie kommen“ – das haben sich die beiden Frauen nicht nur in dieser Situation gedacht. Sie sagen, es ergab sich manchmal von allein, dass ein Gast, der nicht in die Klus passte, wieder ging. Auch als eine Rockband die Klus für ein Probenwochenende bewohnte, half ein Gebet, erzählt Schwester Anka – der Strom reichte für Verstärker und Co..

Wer das Wohnzimmer von Schwester Luise und Schwester Anka betritt, der hört ein leises, regelmäßiges Schnarchen. Daisy, der Hund von Schwester Luise, liegt auf dem Teppich und schläft. Die Klus steht auf dem Gelände des Elternhauses von Schwester Luise. Die 92-Jährige hat den Ort vor 28 Jahren ins Leben gerufen, als sie in Rente ging. Angefangen hat alles aber schon viel früher: Als junge Diakonissin wollte Schwester Luise auf dem Gründstück ein Kinderheim eröffnen. Als ihr der Nachbarort zuvor kam, hätte sie das Diakonissen-Mutterhaus Altvandsburg in Lemförde beinahe verlassen – aus lauter Enttäuschung. „Es gab nach dem Krieg so viele Kinder, die nicht geliebt wurden. Zu dieser Zeit habe ich die Botschaft bekommen: `So lange es ungeborgene Kinder gibt, so lange gehörst Du nicht in Ehe und Familie´“, berichtet die 92-Jährige. Also blieb sie im Mutterhaus und wurde dort Oberin. Ihre Rente gab dann den Startschuss für die „Klus“, die ihren Namen von dem Wort „Klause“ hat und einen abgeschiedenen Ort meint.

Pro Monat leitet die heute 92-jährige Luise Gehrke zwölf Bibellesegruppen. Auch im Gespräch mit Landessuperintendentin Klostermeier lässt sie Zitate aus der Bibel einfließen, als wären ihr die Worte gerade spontan in den Sinn gekommen. Die 92-Jährige ist voller Gottvertrauen. „Es kommt nicht auf mich an, es kommt auf Gott an“, sagt die Frau mit der Brille und der sauber gestärkten Haube. Und sie meint es ernst, wenn sie von absoluter Liebe und absoluter Hingabe zu Jesus Christus spricht. „Unterscheiden zu können, was aus Christus kommt und was nicht, das braucht Achtsamkeit, ein besonderes Gespür – und eine Liebe zum Menschen“, sagt Birgit Klostermeier, die Regionalbischöfin für den Sprengel Osnabrück, im Gespräch mit den beiden Diakonissen.

Kein Internet, kein Fernsehen und nur eingeschränkter Handyempfang – man könnte meinen, die Klus wäre aus der Zeit gefallen. Aber mitnichten: die Nachfrage nach dem Ort war nie so stark wie jetzt, sagt Schwester Luise. „Natürlich gibt es auch Sanatorien und Kliniken, auch da ist der Zulauf enorm. Aber das erlernte Wissen ersetzt nicht das angeborene, erlebte Gefühl“, ist sich Schwester Luise sicher und blickt zu Schwester Anka. Auch für die 55-Jährige ist die Klus im Grunde genommen ein Zufluchtsort gewesen. Vor 25 Jahren ist sie aus dem Mutterhaus nach Rehrßen gekommen. Vor knapp dreißig Jahren wurde sie Diakonisse. Damals sei sie ein „Wildfang“ gewesen, sagt Schwester Anka. Nach schwierigen Startbedingungen in ihrem Leben sei sie in der Klus „heil“ geworden, weil sie hier ihren Platz gefunden habe. „Schwester Anka hat eine Tiefe erlebt, die nicht jeder erlebt hat. Und das macht empfindsam, deshalb kann sie sprechen, wie nicht jeder sprechen kann“, sagt Schwester Luise über ihre Mitschwester. Mit ihrem Temperament schafft die 55-Jährige es nicht nur, die vielen Gäste zu versorgen, sie kümmert sich auch nach Feierabend um Hilfe- und Ratsuchende, die sie per Telefon um ein Gebet bitten.

Früher gab es in der Klus feste Gebetszeiten – um 6, um 9 und um 12 Uhr wurde die Glocke am Turm draußen geläutet. „Das ist heute nicht mehr machbar“, sagt Schwester Anka. Dafür ist zuviel zu tun. Seitdem eine dritte Schwester vor Jahren die Klus verließ, hat sich die Arbeit verdoppelt. Für den Garten haben sie eine Hilfe, den Rest versorgen die beiden allein.

Finanziert wird die Klus seit mehr als 15 Jahren von einem Freundeskreis. Ein Pastor, der nach einem Burnout hierher kam, hat ihn damals gegründet. Inzwischen unterstützen rund hundert Mitglieder die Klus. Für die Gäste ist der Aufenthalt kostenlos. Wer mag, kann eine Spende abgeben. Geöffnet ist die Klus das ganze Jahr über – außer in den zwei Wochen, in denen die beiden Diakonissen Urlaub machen, am liebsten an der See. „Ein leerer Brunnen gibt schließlich kein Wasser“, sagt Schwester Luise bestimmt.

Eine Internetseite gibt es nicht; die Klus lebt allein von der Mund-zu-Mund-Propaganda. Und das soll auch so bleiben, sagen die beiden Schwestern.

Viele Menschen haben in Rehrßen neuen Mut zum Leben und Ideen gefunden, wie es anders weitergehen kann. Auch mehrere Verlobungen und drei kirchliche Trauungen verzeichnen die beiden Diakonissen an diesem besonderen Ort

Die Klus gehört bis heute offiziell der Familie von Schwester Luise, sie hat ihr ein lebenslanges Nutzungsrecht versprochen. Schwester Luise ist nun 92 Jahre alt. Was geschieht mit der Klus, wenn sie mal nicht mehr auf der Erde ist? „Das wird Gott schon richten“, auch da ist sich die 92-Jährige sicher.