Foto: Sprengel Osnabrück

Wirtschaft und Gerechtigkeit – Ein Gespräch mit EKD-Ratsmitglied Marlehn Thieme über nachhaltige Entwicklung

„Die Kirche sieht oft ihre eigenen Sterne nicht. `Macht es gut, und redet darüber!´ – das wäre schon etwas.“

Seit 2012 ist Marlehn Thieme Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung, dem sie seit 2004 angehört. Vor fünfzehn Jahren wurden sie in den Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) gewählt. Beides sind Ehrenämter – genau wie der Vorsitz des ZDF-Fernsehrates, den die 61-jährige Thieme 2016 übernommen hat. Die Juristin, die fast dreißig Jahre lang im Management der Deutschen Bank tätig war, steht außerdem seit 2015 dem Aufsichtsrat der Bank für Kirche und Diakonie (KD-Bank) vor. Landessuperintendentin Birgit Klostermeier hat Marlehn Thieme in Hannover getroffen, um mit ihr über das Thema der Jahreslosung 2018 zu sprechen.

Klostermeier: „Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offenbarung 21,6 (L)) – Frau Thieme, wie aktuell ist die diesjährige Jahreslosung?

Thieme: Sie ist ziemlich aktuell. Vor kurzem war ich auf der Hochzeit eines Patenkindes in Wien. Dort sind im gesamten Stadtgebiet Wassertrinkbrunnen aufgestellt, aus denen man kostenlos trinken kann. Dort musste ich wie so oft an die Jahreslosung denken. Das Thema hat mich angefasst, weil das Recht auf Wasser immer noch essentiell ist. Unser Trinkwasser in Deutschland ist gut; wir missachten es leider und kaufen Wasser in Flaschen. Diese Situation ist aber in keiner Weise auf die Welt übertragbar. Sie betrifft auch nicht nur Trinkwasser, sondern auch das Wasser, mit dem Felder bewässert werden. In Ländern wie zum Beispiel auch im Heiligen Land werden um die Wasserversorgung regelrechte Kämpfe ausgetragen. Aber auch in Niedersachsen gibt es einen Kampf um Wasser, nämlich darum, wer die Sauberkeit des Trinkwassers bezahlen muss. Wegen der ausgeprägten Viehhaltung wird es immer aufwändiger, aus Grundwasser sauberes Trinkwasser zu gewinnen – gerade auch im Osnabrücker Land. Wasser ist ein Lebensrecht, ein Recht auf Würde – das Thema ist derzeit genauso aktuell wie der Kampf um die digitale Datensouveränität. Beides – Wasser und Datenhoheit – ist essentiell.

Klostermeier: Nun steckt in der Jahreslosung das kleine Wörtchen „umsonst“. Darüber kann man ja munter streiten, ob „umsonst“ prinzipiell gut ist. Bei den Propheten verband sich damit die Kritik an der gesellschaftlich ungerechten Verteilung von Gütern. Was meinen Sie, ist sie gesellschaftlich machbar oder wünschenswert?

Thieme: Die Frage ist, ob alles in unserer Gesellschaft umsonst verfügbar sein muss, oder ob wenigstens das Existenzminimum umsonst sein sollte. Ich glaube, es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, und die müssen auf unterschiedliche Weise befriedigt werden. Das Modell der Ein-Klassen-Gesellschaft ist von der Geschichte  überholt worden. Genauso wie zur Schau gestellter Reichtum neben bitterer Armut – das geht gar nicht. Das Schwerste ist, dass sich Armut vor allem bei Frauen festsetzt – Sozialhilfe, Grundsicherung, Hartz IV. Auch müssen wir Kindern die Möglichkeit geben, aus diesen Armutsfamilien herauszukommen. Das geht nicht nur über Geld, das hängt auch von der Form ab, wie wir fördern. Es braucht ein engmaschiges Netz aus Fordern und Fördern. Und ich mache mir große Sorgen um die vielen Menschen, die aus unserer Hochleistungsgesellschaft herauskippen. Darunter sind auch Akademiker, die seit Jahren keine feste Stelle mehr hatten. Bei vielen verfestigen sich dann Fremd- und Selbstbild. Und es gibt in unserer Gesellschaft eine Form von Vereinsamung, die wir nicht mehr in den Griff bekommen. Es hat auch Vorteile, dass man im Gegensatz zu früher heute auch ohne Kontakte überleben kann, nicht mehr davon abhängig ist. Aber wir verlieren dabei offensichtlich die Achtsamkeit füreinander. 

Klostermeier: Es sind merkwürdige Zeiten. Wir leiden hier in Deutschland gesamtwirtschaftlich gesehen keine Nöte, trotzdem, so haben wir den Eindruck, kommt Selbstverständliches ins Rutschen. Menschliche Zuwendung scheint schwieriger zu werden; Vereinzelung ist zu beobachten: manche reden von Narzissmus. Wer nimmt den Anderen wahr? Vielleicht könnten wir sogar von einer Verwahrlosung im Sozialen sprechen? 

Thieme: Ich bin sprach- und hilflos, wenn ich manchmal ansehe, wie verwahrlost Menschen durch die Gegend laufen. Ein Manager hat mir kurz vor seinem Ruhestand erzählt: „Mit genau solchen Menschen möchte ich arbeiten.“ Ich habe daraufhin erwidert: „Du, mit Deiner Erfahrung, Du kannst doch ganz andere Hebel in Bewegung setzen!“ Er hielt aber lange Stand und sagte: „Diese Menschen, die brennen mir auf den Nägeln.“ Er fuhr dann mit dem Kältebus, einem Mitternachtsbus, durch Hamburg, der Obdachlosen nachts Hilfe oder eine warme Mahlzeit anbietet, und sagte: „Das bringt mir viel mehr, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, ich gucke weg.“ Die Welt mit den Augen der Menschen sehen, die auf der Platte leben, dieser Perspektivwechsel – das ist wichtiger denn je.

Die Kirche macht es im Grunde auch nicht richtig. Sie formuliert Ansprüche, um ihrem christlichen Verständnis von Menschenwürde gerecht zu werden. Aber es reicht nicht, die Pflicht des einen zu sehen. Wir haben keine Autorität mehr, die sagt: „Reiß Dich zusammen!“ Ich komme aus einer preußischen Familie. „Reiß Dich zusammen!“ – diesen Satz habe ich als Kind bis zum Abwinken gehört. Das gibt es heute aber weniger. Die Diakonie versorgt Menschen vom Kindergarten bis zum Altenheim, aber satt und sauber, das ist nicht die einzige Lösung in unserer Wohlstandsgesellschaft. Der Individualisierungsanspruch, das übersteigerte Individuum - das ist eine Geißel, die uns davon abhält, aufeinander zu achten.

Klostermeier: Ist es besser, andere Erlebnisse zu ermöglichen, statt Ansprüche vor sich her zu tragen? Der Manager hat bei der Fahrt mit dem Kältebus offenbar neue Erfahrungen gemacht, hat sich auch unangenehmen Gefühlen ausgeliefert. Das verändert.

Thieme: Es gibt das Konzept des „corporate volunteering“. Unternehmen machen das in Frankfurt zum Beispiel mit einer warmen Armenspeisung im Winter in der Katharinenkirche. Dieses Projekt ist auch von den Unternehmen dazu gedacht, sozial zu lernen: Ich kann für die Gesellschaft mehr tun, als einen guten bezahlten Job zu machen. Adolf Merckle, der Gründer von ratiopharm, war christlich geprägt. Auch ihm war das gute Miteinander mit der Gesellschaft wichtig. Dann gibt  es natürlich immer auch den Vorwurf des Utilitarismus: „ihr nutzt den sozialen Lerneffekt für die Wirtschaft“.

Klostermeier: Und: ist da etwas dran?

Thieme: Sicher werden nicht alle, die es hätten gebrauchen können, erreicht. Aber dieser Perspektivwechsel bleibt wichtig, gerade auch für Führungskräfte. Man muss manchmal harte Entscheidungen treffen; entweder man muss jemandem etwas abschlagen oder ihn entlassen. Aber dann ist es gut, sich in die Situation des anderen versetzen zu können.

Der Wohlstand hat uns in Deutschland in den vergangenen siebzig Jahren stark geprägt. Immer geht es um mich – den Führungskräften, und auch denen, die höhere Löhne fordern. Auch die Parteien sagen: „Es geht um Dich und um niemand anderen!“ Der Egoismus pur ist bei Donald Trump jetzt alleiniges politisches Ziel  geworden.

Klostermeier: Ist das der Ruf nach einer moralischen Instanz, die sagt: „So geht es nicht weiter!“?

Thieme: Die Deutungshoheit ist verloren gegangen. Die Politik hat sie nicht mehr, die Kirche hat sie schon länger nicht mehr. Auf regionaler, gemeindlicher Ebene ist sie verloren gegangen. Das macht es den Menschen auch schwerer, sich wieder zu integrieren. Ich bekomme Sozialhilfe und habe Anspruch darauf – ich muss gar nicht mehr fragen. In den skandinavischen Ländern ist das Miteinander überschaubarer, die knüpfen ein engeres Korsett um diese Menschen. Der Sozialstaat, Arbeitsagentur und die Wohlfahrtspflege liegen bei uns zu weit auseinander.

Klostermeier: Das klingt so, als sei das größere Problem die Sprachlosigkeit, die fehlende Verständigung über Werte oder über das „gute“ oder „gerechte Leben“. Sind Sie pessimistisch, wenn Sie in die Zukunft gucken?

Thieme: Nein. Ich bin ja selber Grenzgängerin – durch meine berufliche Tätigkeit und durch meine ehrenamtlichen Engagements. Ich glaube, dass zum Beispiel unsere Schulen Großartiges leisten. Was wir an gesellschaftlichem Zusammenhalt haben, verdanken wir zu großen Teilen unserem Erziehungssystem. Sie zeigen von Kindheit an, dass wir eine Multiperspektivität brauchen: Menschen, die interdisziplinär arbeiten und die kommunikationsfähig sind. Sie nehmen auch das Ganze in den Blick, in Schulen, betrieblicher Ausbildung oder im Studium. Was mir in Zeiten der digitalen Welt dagegen etwas Sorgen bereitet, ist, dass wir zwar die globale Welt, aber nicht mehr die um uns herum wahrnehmen. Regionales Fernsehen und  Zeitungen werden weniger gesehen und gelesen. Es interessiert die Leute weniger, was Stadtrat oder Kreistag entschieden haben – dabei betrifft mich die Kommunalpolitik doch am meisten! Das ist gefährlich für die demokratische Willensbildung, weil die Menschen den Eindruck haben, sie haben keine Einflussmöglichkeit mehr. Das liegt natürlich auch an der gestiegenen Arbeitsverdichtung und Freizeitorientierung. Dann findet auch bald weniger ehrenamtliches Engagement vor Ort statt, das ja eine wichtige Mitgestaltungsmöglichkeit darstellt.

Klostermeier: Kirchengemeinden, das erlebe ich oft, motivieren Menschen Erstaunliches beizutragen. Wie oft wird dort Integrationsarbeit geleistet, sinnhafte Arbeit gemacht? Hof fegen, Garten anlegen, Briefe austeilen, Krankenbesuche machen, die Kältestube organisieren...  Wird das gesellschaftlich wahrgenommen?

Thieme: Wir haben bislang auch als Kirchen keine formale Anerkennungskultur, das fehlt uns, weil die Menschen sich ja nicht um der Kirche willen engagieren. Es gibt aber Gemeinden, die stellen den Ehrenamtlichen nach einem Jahr Arbeit im Gemeindecafé eine Urkunde aus, mit Siegel darauf, dann haben sie etwas in der Hand. Und manche schreiben ihre unbezahlten Aufgaben in richtigen Stellenangeboten aus - mit klaren Vereinbarungen über das Engagement. 

Klostermeier: Haben Sie für Ihre ehrenamtliche Arbeit denn auch schon eine Urkunde bekommen?

Thieme: (lacht) Als ich für den Rat der EKD kandidiert habe, da habe ich in meiner Bewerbung natürlich auch meine ehrenamtlichen Tätigkeiten genannt. Daraufhin hat der Rat tatsächlich den Pfarrer meiner Kirchengemeinde angerufen und gefragt: „Macht sie denn auch wirklich etwas?“

Klostermeier: Was genau sollte die Kirche Ihrer Meinung nach anders machen?

Thieme: Die Kirche ist selbst manchmal entmutigt und traurig und sieht ihre eigenen Sterne nicht. „Macht es gut, und redet darüber!“ – das wäre schon etwas. Denn viele Gemeinden leisten sehr viel in der Integration, nicht nur von Flüchtlingen. Sie bringen Menschen in Kontakt miteinander. Manche Gemeinde wird bei einem Gemeindefest eher sichtbar als in einem Gottesdienst. Zu organisieren, dass es immer wieder einen Perspektivwechsel gibt - es geht darum, da zu sein und dieses fröhlich zu machen. Die Kirchenleute vor Ort, die sind entscheidend. Wir haben von den Frauen gesprochen, die von Armut betroffen sind. Ihnen hilft es schon, auf dem Laufenden zu sein und wenigstens mitreden zu können. Die Alten dürfen nicht abgehängt werden.

Klostermeier: Wahrnehmen und da sein, Zeit und Raum schenken - das wäre dann das „lebendige Wasser“, das „umsonst“ gegeben wird.

Thieme:  Ja, Zuwendung und Akzeptanz. Viele junge Menschen interessieren sich für Berufe in der Pflege und im Bereich Integration. Und das macht mir Hoffnung.

Klostermeier: Vielen Dank, liebe Frau Thieme, für das Gespräch und für Ihre Zeit.