Foto: Sprengel Osnabrück

Zuhören und begleiten – Osnabrücker Telefonseelsorge feiert im kommenden Jahr 40-jähriges Bestehen

„Vor jedem Suizid steht ein nicht geführtes Gespräch“

Mehr als 11.000 Menschen haben im vergangenen Jahr mit Mitarbeitern der TelefonSeelsorge des Diakonischen Werkes in Stadt und Landkreis Osnabrück gesprochen. Damals wie heute suchen die Anrufer Trost, weil sie den Verlust eines geliebten Menschen nicht verkraften können, weil sie krank oder einsam sind. Mehr als siebzig Ehrenamtliche bieten den Anrufern ein offenes Ohr - an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr. Im Jahr vor dem 40-jährigen Bestehen der Einrichtung durfte Landessuperintendentin Birgit Klostermeier die TelefonSeelsorge besuchen.

Eigentlich sind Besucher in den Räumen der TelefonSeelsorge nicht erlaubt. Auch das Gebäude, in dem sich die Einrichtung befindet, ist von außen nicht erkennbar. Die Namen der ehrenamtlichen Mitarbeiter in diesem Text sind geändert. Oft wissen nur ihre Familien von ihrem Engagement. Anonymität spielt eine wichtige Rolle. „Wir schützen damit nicht nur unsere Ehrenamtlichen, sondern auch die Anrufer. Niemand soll zögern anzurufen, weil er befürchten muss, dass seine Nachbarin hier gerade Dienst hat“, sagt Pastor Matthias Wille, der die TelefonSeelsorge seit 2010 leitet.

„Alles bleibt hier im Raum“, sagt Elke B., „und das finde ich sehr schön. Wir kommen oft mit schweren Schicksalen in Berührung. Ich kann mich hier voll und ganz auf meine Gesprächspartner einlassen. Im Moment des Gesprächs bin ich völlig von der Außenwelt abgeschlossen. Ich nehme aber auch nichts davon mit nach Hause.“ Die 59-Jährige hat 2009 ihre einjährige Ausbildung zur Telefonseelsorgerin begonnen, seit acht Jahren gehört sie nun zum festen Team der Ehrenamtlichen.                 

Es ist ein stiller, sonnendurchfluteter Raum, in dem Elke B. gerade ihren Dienst beendet hat. Vier Stunden lang hat sie Telefonate aus dem Osnabrücker Land und aus dem gesamten Nordwesten Deutschlands angenommen. Seit einigen Jahren werden nicht mehr Anrufer aus dem gesamten Bundesgebiet durchgestellt. Es gibt vielmehr sechs Stellen in Nordwestdeutschland, die zu einer Organisationseinheit zusammengelegt wurden. Macht ein Mitarbeiter zum Beispiel im Bereich Emsland/Grafschaft Bentheim Pause, nimmt ein anderer in Osnabrück das Gespräch entgegen – und umgekehrt.

Auf dem Boden des Zimmers, in dem telefoniert wird, liegt ein dicker Wollteppich. Der Blick vom Schreibtisch, auf dem das Telefon steht, fällt auf einen Baum, der vor dem Fenster steht. „Die Frau, mit der ich gerade gesprochen habe, hat am Ende unseres Telefonats gesagt: `ja, jetzt ist alles gut´. Das freut mich natürlich. Wobei es auch unsere Aufgabe ist, es auszuhalten, wenn das Leid der Anrufer nicht schwindet. Trotzdem sind wir für sie da“, sagt Elke B. im Gespräch mit Landessuperintendentin Birgit Klostermeier.

An solch einen Fall erinnert sich Kerstin S., die seit drei Jahren bei der TelefonSeelsorge dabei ist. In einem Nachtdienst bekommt sie einen Anruf von einem Mann mittleren Alters. Der Vater mehrerer Kinder hat am Abend in einer Klinik seine Frau verloren. Die Krankenhaus-Seelsorgerin rät ihm, als sie nach Hause gehen muss, die Nummer der TelefonSeelsorge zu wählen. Kerstin S. spricht mit dem Mann, bis er sagt: „Danke, jetzt komme ich durch den Rest der Nacht, bevor es morgen rundgeht.“ Am nächsten Morgen wollen die Kinder versorgt und Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen werden.                         

Die Motive, warum jemand die TelefonSeelsorge anruft, sind ganz unterschiedlich. Es sind mehr Frauen als Männer; alle Altersgruppen und Konfessionen sind vertreten. Es wird zu jeder Tageszeit angerufen – vormittags genauso wie abends oder nachts. Manchmal nutzen Anrufer die TelefonSeelsorge, um die Wartezeit bis zum Beginn einer Psychotherapie zu überbrücken; manchmal sind es so genannte Mehrfachanrufer, die in Abständen von mehreren Wochen, Monaten oder sogar Jahren immer mal wieder die TelefonSeelsorge anrufen. Gespräche über religiöse Themen sind selten; manchmal bitten die Anrufer aber um ein gemeinsames Gebet. Manchmal handelt es sich auch um Scherz- oder Sex-Anrufe, aber die Zahl geht stetig zurück. „In diesem Fall sage ich dann: `ich glaube, Sie haben die falsche Nummer gewählt´“ sagt Elke B., „und damit ist das Gespräch beendet. Schließlich haben wir das Gespräch in der Hand“, berichtet die erfahrene Telefonseelsorgerin.

Es gibt häufig Anrufer, die mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen. „Gespräche mit verzweifelten suizidalen Menschen haben wir jede Woche. Den Fall, dass ein Anrufer seinen Suizid konkret in den nächsten Stunden und Minuten plant, den haben wir etwa drei bis vier Mal pro Jahr. Suizid ist ein zentrales Thema“, berichtet Pastor Matthias Wille. Auch auf diesen Fall werden die Ehrenamtlichen in ihrer Ausbildung so gut wie möglich vorbereitet. Bei den Telefonseelsorgern handelt es sich um sehr professionelle Ehrenamtliche: ein Jahr lang treffen sich die Anwärter einen Abend pro Woche. Bleiben sie dabei, legen sie sich auf zwei Schichten pro Monat fest, die je vier Stunden dauern, plus fünf Nachtdienste pro Jahr.

Manche Fälle gehen den Telefonseelsorgern besonders nahe. Deshalb gibt es im zwei- oder vierwöchigen Abstand zusätzlich Supervisionstreffen, bei denen in der Gruppe darüber gesprochen werden kann, warum ein bestimmtes Thema jemanden besonders berührt, und wie man sich abgrenzen kann, wenn einem ein Anrufer oder ein Thema zu nahe geht.

„Ich bin in dieser Zeit viel vorsichtiger oder tiefgründiger geworden in der Beurteilung oder im Empfinden anderer Menschen“, berichtet Kerstin S. bei dem Treffen mit Birgit Klostermeier, der Osnabrücker Regionalbischöfin. „Man sagt so leicht dahin: `ach, der oder die ist doch blöd!´ Hier haben wir gelernt, zuzuhören, die Welt des anderen zu erspüren und von seiner Perspektive her zu begleiten; nicht einfach zu sagen: `ach ja, bei mir war das auch so´. Was wir auch gelernt haben: am Ende eines Gespräches muss kein Ergebnis stehen. Das Gespräch war nicht umsonst, auch wenn sich nichts direkt verändert hat.“ Es gehe nicht immer um konkrete Hilfsangebote, um die Weitervermittlung zu Beratungsstellen, sondern vor allem darum, den Anrufern das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. „Vor jedem Suizid steht ein nicht geführtes Gespräch“, sind sich die Ehrenamtlichen sicher.

Wem der Schritt, zum Telefon zu greifen, zu groß ist, der hat seit Anfang des Jahres die Möglichkeit, sich per Chat mit einem Mitarbeiter der TelefonSeelsorge auszutauschen. Vor allem Jüngere nutzen das Angebot, aber nicht nur die. „Für viele Hilfesuchende ist die Schwelle, vom Computer aus zu schreiben, erst einmal geringer“, berichtet die Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin Regina Tocke, die das Projekt betreut. „Vielleicht ist man auch fokussierter, weil man zwischen den Antworten eine Minute vergehen lassen kann“, sagt Tocke. Ehrenamtlichen, die etwas älter sind und Hobbys von jüngeren Hilfesuchenden - wie zum Beispiel manche Online-Spiele - vielleicht nicht kennen, rät sie, einfach nachzufragen. Auch so kommt man in´s Gespräch.

Elke B. sagt, sie habe schon immer gern telefoniert – kein Wunder also, dass die TelefonSeelsorge das richtige Ehrenamt für sie ist, sagt die 59-Jährige schmunzelnd. Die berufstätige Mutter nimmt sich aber auch mal eine Auszeit, wenn ihr Beruf oder die Familie es nicht zulassen, dass sie sich voll und ganz auf die Gespräche mit den Anrufern einlassen kann. „Dann komme ich aber auch gern wieder und freue mich richtig auf die Anrufer. Manchmal frage ich auch die Kollegen: `hat XY mal wieder angerufen?´ Und wenn eine ältere Dame am Ende eines Gespräches sagt: `Sie sind eine ganz Liebe´ - na, dann denke ich: das sollte mein Mann mal hören!“, sagt Elke B. und lacht. „Aber ganz im Ernst: Es ist für mich ein Gegengewicht zum Berufsleben. Man wird auch wieder zurechtgeruckelt, was wirklich wichtig ist, im Gegensatz zu all dem Alltagsstress.“

Elke B. war durch eine Anzeige im Stadtmagazin auf die TelefonSeelsorge aufmerksam geworden. Derzeit befinden sich wieder zwölf Menschen in der Ausbildung zur Telefonseelsorge. „Früher hatten wir vor allem Frauen im Dienst, die finanziell abgesichert waren und nicht gearbeitet haben. Jetzt sind zwei Drittel der Ehrenamtlichen berufstätig; es sind alle Altersgruppen im Einsatz – Männer sind allerdings in der Minderheit“, sagt Leiter Matthias Wille. Auch im kommenden Jahr, dem Jahr des 40-jährigen Bestehens, wird es wieder einen neuen Ausbildungs-Jahrgang geben. Nachwuchs wird immer gebraucht, weil auch jedes Jahr Mitarbeiter gehen. Empathie ist eine wichtige Voraussetzung; die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen, so Wille. Pastoralpsychologe Martin Weimer nannte die TelefonSeelsorge einmal ein „Institut der Mütterlichkeit“: rund um die Uhr sei jemand für die Anrufer da, für Menschen, die sich allein fühlen, bedürftig sind und jemanden brauchen - nicht nur in einer aktuellen Krise.   

„`Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.´ - wie passend ist dieses Bild, das die aktuelle Jahreslosung mit sich bringt, doch für die TelefonSeelsorge. Sie geben durch Ihre Zeit hier am Telefon das Wasser, das Menschen am Leben erhält. Die Anrufenden erleben Sie als Quelle. Und das ist eine so wichtige Aufgabe, dass ich Ihnen dafür ganz herzlich danken möchte“, sagt Landessuperintendentin Birgit Klostermeier im Gespräch mit den Mitarbeitern der Osnabrücker TelefonSeelsorge.