Foto: Sprengel Osnabrück

Teil 5: Ein Gespräch im Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz in Syke

Nachricht Syke, 13. Juni 2016

„Einen Trost gibt es nicht. Aber trösten, ja, das kann man.“

Landessuperintendentin Birgit Klostermeier spricht mit Löwenherz-Seelsorgerin Thekla Röhrs über das Thema der aktuellen Jahreslosung „Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen eine Mutter tröstet.“

Eine dunkelblonde Frau mit kurzen Haaren und Brille, in Jeans und langer weißer Bluse begrüßt Landessuperintendentin Klostermeier im Kinderhospiz Löwenherz. Sechs Jahre lang war Thekla Röhrs die Ansprechpartnerin für Kinder, Jugendliche, Eltern und Mitarbeiter des Kinder- und Jugendhospizes in Syke. Ende Juni hört sie nun auf. Im Gespräch mit Birgit Klostermeier berichtet die 56-Jährige von ihrer Arbeit. Und zwar erzählt sie gleich zu Beginn von einem Jungen, der sie sehr beeindruckt hat.

Röhrs: Nico war 17 Jahre alt, als er vor zwei Jahren zu uns kam, mit einem Gehirntumor. Er war auf dem Weg in ein Auslandsjahr in den USA, als er die Diagnose bekam. Nico war es wichtig, nicht vergessen zu werden. Deshalb erzähle ich von ihm, und von seiner Mutter. Beide gaben vor Nicos Tod einem Fernsehteam ein Interview und die Mutter bekam die Frage gestellt, ob es etwas gibt, das ihr Trost spendet. Ich fand die Frage damals sehr problematisch. Vor zwei Wochen habe ich sie nun wieder getroffen, und wir erinnerten uns an das Interview. Nicos Mutter sagte mir jetzt: „Einen Trost gibt es nicht, aber es gibt etwas, was mich tröstet: Ich glaube, dass es Nico dort, wo er jetzt ist, gut geht.“

Ich denke, dass es auch hier im Haus etwas gibt, das trösten kann. Erstens: erfahren und erleben zu können: ich bin nicht allein. Zweitens: ich werde ermutigt, den nächsten Schritt zu tun.

Das Substantiv „Trost“ ist ein starres Wort. Das geht für viele eher nicht.

Klostermeier: „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ oder „Warum passiert uns das?“ – werden Sie das eigentlich oft gefragt?

Röhrs: Das ist ganz unterschiedlich. Viele Eltern berichten uns, wenn sie hier sind: „Die Frage nach dem Warum, die habe ich nicht mehr.“ Am Anfang gehörte sie zur Auseinandersetzung mit der Erkrankung des Kindes dazu, genauso wie der Zorn, später nicht mehr. Die meisten Gäste, die ins Löwenherz kommen, sind ja schon ein Stück des Weges gegangen.

Eine Mutter, deren Sohn gestorben und deren Tochter krank ist, sagte mir: „An einen Gott, der so etwas zulässt, an den ich glaube ich nicht.“ Und wiederum eine andere Mutter sagte zu mir: „Die Frage nach dem Warum hatte ich nie. Ich habe nach der Geburt meines Kindes Gott darum gebeten, dass dieses Kind leben darf. Es hat überlebt. Von daher habe ich die Frage nach dem Warum dieser Krankheit nie gehabt.“

Das ist ganz unterschiedlich.

Mir scheint, dass Großeltern oftmals viel eher die Frage nach dem Warum haben.

Klostermeier: Das Wort „Erlauben“ ist ein wichtiges Wort für Ihre Arbeit. „Erlauben“ und „Trösten“ – wie hängt das für Sie zusammen?

Röhrs: Dass alles sein darf; dass alles erlaubt ist. Alle Gedanken. Im wahrsten Sinne des Wortes alles. Hier ist ein Raum, der von und mit Menschen gestaltet wird. Niemand muss etwas. Weder Mütter, Väter noch die Jugendlichen müssen sich im Löwenherz mit dem Thema Sterben auseinandersetzen. Hier wird geguckt: Wo stehen die Menschen?  Was brauchen sie? Nico hat mal gesagt: „Die Hoffnung stirbt zuletzt, meine erst einmal gar nicht.“ Unsere Geschäftsführerin hat das so formuliert: „Nico hat die Hoffnung nicht aufgegeben, er hat sie verwandelt.“

Klostermeier: In was?

Röhrs: In Licht, in Aufgehobenwerden, in Frieden, nein, ich glaube es ist eher in Schalom.

Klostermeier: Sie haben beschrieben, dass Eltern eher in der Lage sind, das Schicksal ihres Kindes anzunehmen als die Großeltern. Tröstet sie das?

Röhrs: Sie nehmen ihr Kind an, auch wenn es nicht so ist, wie sie es erwartet haben. Wenn sie die Diagnose haben, dann hoffen die Eltern ganz lange, dass der Tod nicht kommt. Manchmal bekommen die Eltern bei der Geburt schon eine Prognose mitgeliefert. Keiner weiß warum. Vielleicht denken die Ärzte, nur so verstehen die Eltern, wie ernst es ist. Eine Mutter hat bei der Geburt die Prognose bekommen: „vier Wochen, länger wird Ihr Kind nicht leben.“ Der gleiche Arzt sagte ihr Wochen später: „sechs Monate, stellen Sie sich darauf ein.“ Die Eltern verspannten sich daraufhin total, weil sie nur auf diese sechs Monate hin lebten. Im achten Lebensmonat des Kindes sagten sie sich dann: „wir lassen die Prognose weg.“ Das hat mir die Mutter am 18. Geburtstag des Kindes erzählt.

Wir wollen hier das Leben gestalten, oder anfangen, es zu gestalten. Und das Leben anzunehmen bedeutet: ich brauche Unterstützung. Ich darf mit meinen Fragen, mit meiner Unsicherheit überall hin. Der Austausch, die Gespräche mit anderen Eltern, das ist das Zweitwichtigste überhaupt, neben der liebevollen Pflege.

Klostermeier:  Was tröstet Sie selbst ? In den Gesprächen im Rahmen der Sprengelfrüchte haben die Jugendlichen neulich erzählt, Trost sei wie ein Geschenk, das sie weitergeben, oder wie ein Fluss, der weitergeht. Oder Frau Dr. Crüsemann hat von einem „Trostverbundsystem“ gesprochen….

Röhrs: Mit dem Fluss kann ich viel anfangen, ja. Ich bin schon aus mehreren spirituellen Situationen nach Hause gekommen und habe meinem Mann gesagt: „Das war nicht ich, das war etwas anderes, da war etwas Größeres mit im Raum.“ Man braucht nicht nur Handwerkszeug, man muss es auch fließen lassen, das Trösten und Getröstwerden. Wenn Menschen erlauben, dass es fließt, dann fließt es auch. Das tröstet mich. Und das zweite: ich bin hier nicht allein. Nicht ich tröste. Wir trösten. Und nicht zuletzt: Beten. Beten zu können – das ist auch etwas, das mich tröstet.

Klostermeier: Ein Gebet ist ja auch etwas, das fließt.. und ein Gegenüber hat. Das Haus ist ja nicht konfessionell.

Röhrs: Es ist nicht religiös und nicht konfessionell, aber ich erlebe hier viel Spiritualität. Spiritualität bringen sowohl die Menschen mit, die hier arbeiten als auch die Menschen, die als Gäste ins Löwenherz kommen.   

Klostermeier: Es klingt, als würden verschiedene Ichs zu einem Wir werden. Liegt das auch daran, dass alle, die hier arbeiten sich bewusst entschieden haben – das Ende des Lebens soll gelebt und gestaltet werden?

Röhrs: Jeder hat sich bewusst entschieden: Der Hausmeister, die Mitarbeiterinnen  in der Küche, die Pflegekräfte. Alle wissen: ich kann von dieser Grenze berührt werden. Es ist auch schon passiert, dass eine gute Krankenschwester nach vier Wochen gesagt hat: „ich kann es nicht.“ Wir haben in diesem Jahr ziemlich viel Wechsel. Da hat aber keiner gesagt: „Ich ertrage es nicht mehr.“ Sondern es ist eher so, dass man eine neue Perspektive sucht für das eigene Leben. Ich bin auch an der Grenze. Ich habe in den vergangenen sechs Jahren 70 Kinder und Jugendliche begleitet und die Abschiedsrituale mit den Familien gemacht. Ich glaube, dass es jetzt gut ist zu gehen. Ich will mich nicht daran gewöhnen,  dass Kinder und Jugendliche sterben.

Klostermeier: Sie gehen sehr sorgfältig mit Worten um.

Röhrs: Meine Sprache hat sich hier ziemlich schnell verändert. Weil ich sehr wohl weiß, dass Worte verletzen können. Ich habe vor kurzem ein Elternpaar gefragt, was sie mit Seelsorge verbinden. „Seelsorge ist für mich das Streicheln der Seele“, hat mir da die Mutter gesagt. Meine Sprache ist vorsichtiger geworden. Mehr verbunden, was auf der Erde geschieht – und gleichzeitig zum Himmel ausgerichtet. Und mehr vom Herzen her und weniger vom Kopf. Theologische Formeln habe ich abgelegt. Meine Glaubenssätze spreche ich jetzt in meiner Muttersprache.

Klostermeier: „ Muttersprache“ sagen Sie, das passt zu der Jahreslosung.„Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen eine Mutter tröstet.“ Welche Bilder und Assoziationen verbinden Sie damit? 

Röhrs: Ich hab mich Ende vergangenen Jahres gefreut über die Losung. Ich habe kein Mutterbild, in dem die Mutter übergroß ist und die Tochter klein. Mein Bild entspricht eher einem Gegenüber, von dem ich nicht erdrückt werde.

Wenn ich hier im Kinder- und Jugendhospiz Menschen umarme, dann sicherlich auch, um den Halt spürbar zu machen.

Klostermeier: Das hat mit Freiheit und Zutrauen zu tun. Ob es gelingt, das bleibt ja offen - Ist es ein Wagnis?

Röhrs: Das Umarmen setzt Vertrauen voraus. Das hat auch mit Fließen zu tun. Vertrauen kann nur durch Begegnung wachsen. Erst vertrauen, dann zutrauen.

Klostermeier:  Diese Muttersprache, dazu gehört ganz viel hören und dann die Worte sich finden lassen?

Röhrs: Ich suche mit dem Herzen nach Worten. Wenn ich sie gefunden habe, dann traue ich diesem Wort etwas zu. Dann bin ich bei meiner Muttersprache.

Klostermeier: Gut, wenn Sie diese Sprache mit hineinnehmen in das neue Berufsfeld, das vor Ihnen liegt, in das „Land der Lebenden“, wie Sie sagen. Vielleicht werden Sie auch etwas aufschreiben von Ihren Erfahrungen hier? Ich bin sicher, dass Sie andere damit trösten. Liebe Frau Röhrs, vielen Dank für dieses Gespräch.