Foto: Sprengel Osnabrück

Teil 8: Ehrenamtliche in Syke beherbergen regelmäßig Pilger

Nachricht Syke, 06. September 2016

„Man braucht ein bisschen Neugier, und auf jeden Fall eine Menge Vertrauen.“

Wer auf dem Jakobsweg von Bremen in Richtung Süden pilgert, der kennt eine dieser beiden Frauen wahrscheinlich: Gerda Schmidt und Andrea Gudehus-Ochmann haben in den vergangenen Jahren Hunderte von Pilgern in ihren Häusern beherbergt. Über ihre Gründe, ihre Erlebnisse und über das Thema „Trost“ haben sie in der Reihe "Sprengelfrüchte" mit Landessuperintendentin Birgit Klostermeier gesprochen.

Ein kleiner Tisch, ein Holzstuhl und ein dickes Bett mit einem weißen Überwurf – das Gästezimmer im Haus von Familie Gudehus-Ochmann ist für Pilger, die die rund 25 Kilometer lange Strecke von Bremen nach Syke über den Jakobsweg zurückgelegt haben, purer Luxus. Schließlich schlafen sie sonst häufig auf der Isomatte und im Schlafsack auf dem Boden. Außer einem warmen Bett finden sie bei Gudehus-Ochmanns aber auch eine Dusche und einen Platz am Abendbrot-Tisch. Pro Jahr übernachten in den Familien Schmidt und Gudehus-Ochmann jeweils rund 20 Pilger. Die ersten kommen im Frühjahr, die letzten kurz vor Weihnachten, berichten Andrea Gudehus-Ochmann, 56, und Gerda Schmidt, 72, im Gespräch mit Landessuperintendentin Klostermeier auf der Terrasse des roten Backstein-Hauses in Syke.

Schmidt: Wir hatten einmal eine Neuseeländerin, die war im Herbst in Norwegen auf dem Pilgerweg gestartet. In der Woche vor Weihnachten, in der ausnahmsweise mal Schnee lag, kam sie dann bei uns an – völlig erschöpft vom vielen Schneestapfen. Die Frau war richtig krank. Ich war heilfroh, dass sie zwei Nächte blieb und nicht wie üblich am nächsten Tag wieder aufbrechen wollte. Aber selbst dann fiel es mir schwer, sie wieder in den Schnee zu entlassen. Aber man muss sie dann auch ziehen lassen.

Gudehus-Ochmann: Ich erinnere mich an einen jungen Finnen, der vor Kraft nur so strotzte. Weil wir ihn aufgenommen hatten und er uns nichts Anderes geben konnte, holte er eine Rolle Silberdraht hervor und bog daraus eine kleine Figur – einen Pilger mit Rucksack, der am Startpunkt seines Weges ein großes Herz hat.

Die beiden Frauen erinnern sich gegenseitig an Erlebnisse, die sie in den vergangenen zehn Jahren mit den Pilgern hatten. Ausschlaggebend für das Engagement der beiden war ein Projekt der Uni Vechta, das vor mehr als zehn Jahren den Teil des Jakobsweges von Bremen nach Münster genau beschrieb. In einem Führer wurden Übernachtungsmöglichkeiten aufgelistet. Gerda Schmidt und Andrea Gudehus-Ochmann waren sofort dabei.

Klostermeier: Was hat Sie damals denn bewogen, mitzumachen? Das ist doch ein gewaltiger Schritt, das eigene Haus für Fremde zu öffnen.

Gudehus-Ochmann: Ich habe immer schon gerne Besuch gehabt. Unsere Kinder sind aus dem Haus und wir haben Platz – da lag es nur nahe, dass wir bereit sind, Pilger aufzunehmen. Auch wenn ich meinen Mann erst davon überzeugen musste – was gar nicht so einfach war, weil man schließlich sein Zuhause mit Anderen teilt.

Schmidt: Man muss ein bisschen neugierig sein auf Menschen, und Vertrauen haben. Und man bekommt auch etwas zurück. Wir haben schon zig Einladungen bekommen, aus den Heimatorten der Pilger; wobei wir die nie angenommen haben. Es gibt häufig Sympathien. Wenn jemand kirchlich engagiert ist, spricht man über die Gemeindearbeit. Aber man kann nicht mit allen Kontakt halten – wir haben ja Familie und alte Freunde, die haben Vorrang.

Klostermeier: Ist das vielleicht das Besondere, dass diese Begegnungen nur einen kurzen Moment andauern? 

Gudehus-Ochmann: Ja, und dass man trotzdem vertraut. Vor drei Jahren standen abends um halb sieben zwei Franzosen vor meiner Tür, als ich gerade das Haus verlassen wollte, weil mein Mann und ich zum Essen eingeladen waren. Da dachte ich: „Bin ich nun die Herbergsmutter oder nicht?“ Und dann hab´ ich sie hereingelassen, ihnen einen Schlüssel gegeben und bin anschließend zu meiner Verabredung gegangen. Wie sich später herausstellte: ohne Probleme.

Schmidt: Das gilt ja umgekehrt genauso, das mit dem Vertrauen. Wir könnten ja auch ein ganz übler Haufen sein…

Sagt Gerda Schmidt und lacht. Ein weiterer Grund, warum sie fremde Menschen in ihr Haus lässt, ist ihre Flucht im Januar 1945. Gerda Schmidt ist zwei Jahre alt, als ihre Familie den Kreis Thorn im heutigen Polen verlassen muss. Hätte man ihrer Familie damals nicht auch ab und an einen Schlafplatz und etwas zu essen überlassen, dann wäre sie heute sicher nicht mehr am leben, ist sich die 72-Jährige sicher.  

Klostermeier: Gibt es eigentlich so etwas wie ungeschriebene Regeln für Herbergsmütter? Ich stelle mir vor, dass Sie Ihre eigenen Grenzen immer wieder neu ausloten müssen.

Gudehus-Ochmann: Ja, das ist wohl so. Die Zahl der Pilger nimmt zu. Darunter gibt es öfter Menschen, die auch anstrengend sind und mich sehr fordern. Sie erzählen am Abendbrottisch ihre ganze Lebensgeschichte oder können manchmal nicht respektieren, wenn ich sage: ich hatte einen langen Tag, seien Sie nicht böse, aber ich ziehe mich jetzt zurück.

Schmidt: Mein Mann geht dann immer Fußballgucken … (lacht) Aber es stimmt: sich abzugrenzen, das fällt manchmal wohl schwer. Die meisten Pilger ziehen sich aber schnell zurück. Weil sie nach dem langen Weg einfach nur müde sind und schlafen wollen.  

Gudehus-Ochmann: Am Anfang habe ich immer noch extra eingekauft und gekocht, wenn sich Pilger angekündigt hatten. Das mache ich heute nicht mehr. Sie können aber gerne bei uns mitessen und am nächsten Morgen ein Frühstück bekommen.

Früher haben Gerda Schmidt und Andrea Gudehus-Ochmann die Pilger kostenlos bei sich aufgenommen; heute nehmen sie fünf Euro als Unkostenbeitrag. Den Kontakt zu den beiden Herbergsmüttern finden die Pilger im Schaukasten an der Kirche oder in den Pilgerführern für den Jakobsweg. In den Gesprächen mit den Pilgern erfahren Schmidt und Gudehus-Ochmann auch mehr über deren Motive.

Klostermeier: Welche Rolle, meinen Sie, spielt dabei das Religiöse?

Schmidt: Ich hatte einmal ein Ehepaar zu Gast, das war schon seit zwei Jahren unterwegs, mit nur kurzen Pausen zu Hause. Die Frau hatte eine Krebserkrankung überstanden und nun wollten beide einfach nicht mehr zu Hause sein. Ich meine, wer sich so lange in der Natur aufhält, mit dem passiert ja etwas. Das spendet ja unglaublichen Trost.  

Gudehus-Ochmann: Ich glaube, es sind oft Menschen, die sich neu orientieren wollen. Das Spirituelle steht dabei im Vordergrund, ohne dass darüber viel geredet wird. Gerade nach einer Krankheit wollen viele wissen: Schaffe ich das noch, oder noch einmal? So eine Pilgerreise ist ja schließlich eine sehr anstrengende Sache. Dafür entscheidet man sich – genau wie beim Wandern oder einer Weltreise – doch ganz bewusst.

Die Haustür von Familie Gudehus-Ochmann ziert ein blauer Aufkleber, auf dem gelbe Linien zu sehen sind, „Pilgerweg“ ist darunter zu lesen. Die richtigen Pilger haben alles im Rucksack: eine Matte, einen Schlafsack und vor allem einen Pilgerausweis. Für den bekommen sie hier einen Stempel. „Bartholomäus Kirche Barrien. Am Jakobsweg“ ist darauf zu lesen. Der Pilgerausweis sorgt dafür, dass man die echten Pilger von denen unterscheiden kann, die lediglich auf Wanderschaft sind.

Landessuperintendentin Birgit Klostermeier bedankt sich bei den beiden Frauen: „Ich finde beeindruckend, wie Sie dies über eine so lange Zeit machen: ihr eigenes Haus öffnen und jedem Raum geben, der kommt. Das ist wie ein Geschenk und Ihre Gästebücher  zeigen, dass die Pilger das spüren."

Für die 72-jährige Gerda Schmidt ist nach zehn Jahren und weit mehr als 200 Pilgern Zeit für eine Pause. Und zwar eine wohl verdiente. Andrea Gudehus-Ochmann weiß zwar nicht, wann das nächste Mal Pilger vor ihrer Haustür stehen werden. Aber sie wird wieder öffnen, das ist klar.